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Architektur
Im Rahmen des Modellverfahrens Mäusebunkers soll die Diskussion um Denkmalwürdigkeit und Erhalt des ikonischen Gebäudes im internationalen Diskurs der Baukultur geführt werden.
Ya’el Santopinto und Graeme Stewart (ERA Architects) : „Retrofitting Brutalism“ als transatlantischer Dialog
Ein Gespräch mit Gunnar Klack, August 2021
Ya’el Santopinto und Graeme Stewart haben mehrere Projekte realisiert, für die die Bezeichnung “Retrofitting Brutalism” zutrifft. Besondere Beachtung fand der von ihnen geplante Umbau des Wohnhochhauses Ken Soble Tower in Hamilton, Ontario. 2018 veröffentlichten sie die
Concrete Toronto Map.
Was denken Sie über die Umnutzung und den Umbau brutalistischer Gebäude? Welche Aspekte sind Ihnen dabei wichtig und beschäftigen Sie sich damit aus Gründen des Umweltschutzes, aufgrund wirtschaftlicher Erwägungen oder aus Interesse am kulturellen Erbe?
Graeme Stewart: Wir haben ein Buch über Brutalismus in Toronto mit dem Titel Concrete Toronto geschrieben. Dabei konzentrierten wir uns zunächst hauptsächlich auf Architektur mit hohem konzeptionellem Anspruch und künstlerischem Wert – dem Inbegriff von Brutalismus. Im Laufe des Projekts interessierten wir uns aber immer mehr für die „alltäglichen“ Bauten der Moderne. Millionen Kanadier leben in diesen Gebäuden, die einen beträchtlichen Wert darstellen. Gleichzeitig veränderte sich vor circa zehn Jahren die Wahrnehmung der Architektur des Brutalismus. Stadtbildprägende brutalistische Bauten erhielten mehr Aufmerksamkeit und wurden positiver gesehen als zuvor. Am schlechtesten war ihr Image in der Öffentlichkeit wohl in den 1990er-Jahren. Nun gibt es zunehmend Interesse an der Erhaltung dieser großen Betongebäude. Manchmal ist die neue Wertschätzung rein pragmatisch, manchmal steht kulturelles Interesse dahinter.
Ya'el Santopinto: Unser Ausgangspunkt waren die sozialen und kulturellen Aspekte. Heute befassen wir uns vorwiegend mit den technischen, politischen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten der Transformation von Bauten der Moderne, aber zu Beginn galt unser Interesse der sozialen und kulturellen Dimension. Gemeinsam mit unserem Partner United Way Toronto befragten wir fast 3.000 Bewohner*innen großer Wohnsiedlungen der Nachkriegszeit über ihre Lebensverhältnisse und zu Meinungen über ihre Wohnungen. Wir erfuhren, dass nicht nur die Qualität der Bausubstanz zumeist gut war, sondern auch die Zufriedenheit unter den Mietern recht hoch. Am dringlichsten leicht zu behebende Probleme wie Fenster, die man nicht richtig öffnen konnte oder kaputte und ungepflegte Bauteile.
Unser Interesse an der Modernisierung von Betongebäuden wurde einerseits durch die pragmatische Frage beeinflusst, wie man diese alltäglichen Bauten auf einen modernen Standard bringen könnte, um Wohnverhältnisse und Komfort zu verbessern? Wir lasen viel über die Bauvorschriften in Deutschland und darüber, wie viele Plattenbausiedlungen modernisiert wurden. Wir waren beeindruckt davon, wie die großen landeseigenen Wohnungsbaugenossenschaften ihre Hochhäuser aus der Mitte des Jahrhunderts sanierten. Der andere Einfluss war der veränderte öffentliche Diskurs über den Brutalismus. Besonders beeindruckt waren wir von Projekten in Großbritannien. Einige brutalistische Bauten, die bis dahin keine Beachtung gefunden hatten, wurden nun sehr beliebt. Die Renovierung von Park Hill in Sheffield ist ziemlich verspielt worden, aber sie markierte eine Veränderung.
Ich muss betonen, dass selbst völlig vernachlässigte alltägliche Wohnsiedlungen in der Regel eine bessere Bausubstanz haben, als ihnen oft zugestanden wird. Allerdings besteht keine Chance, ein Gebäude zu erhalten, wenn niemand es tun will. Es braucht dafür Leute, denen der betreffende Bau wirklich gefällt.
Gebäude wie der Mäusebunker wurden für einen ganz bestimmten Zweck entworfen und sind bekanntermaßen schwierig umzubauen. Welche Erfahrungen haben Sie mit solchen schweren Betonbauten der späten Moderne gemacht?
Graeme Stewart: Eine der Herausforderungen beim Umbau brutalistischer Bauten besteht darin, dass ihre Grundrisse und räumliche Organisation auf die jeweilige konkrete Nutzung zugeschnitten sind. Auch ihre skulpturalen Formen sind oft einzigartig und ungewöhnlich. Entsprechend schwierig müsste es eigentlich sein, sie umzunutzen und umzugestalten. Doch das Gegenteil ist der Fall: Sie machen es einem sehr leicht. Beton ist robust und schwer, und die Ästhetik liegt in der Dicke und den eckigen Formen. Dadurch ist es ziemlich einfach, etwas wegzunehmen, hinzuzufügen oder abzuändern. Das ist viel leichter als die Restaurierung eines Meisterwerks der frühen Moderne, bei dem die Proportionen das wesentliche Element des Entwurfs sind. Denken Sie nur daran, wie behutsam man an die Modernisierung von etwas so Filigranem wie Mies‘ Neuer Nationalgalerie in Berlin herangehen muss. Im Grunde widerspricht es zwar der Intuition, aber die für den Brutalismus typischen ungewöhnlichen Formen, die Massivität des Betons und das hohe Maß an Spezifität in der Gestaltung sind keineswegs schlecht. Denn genau die Eigenschaften der Bauten, die sie weniger flexibel erscheinen lassen, machen sie tatsächlich strukturell und ästhetisch flexibler – weil sie so viel zulassen.
Wie sind Sie an die Problematik der Wärmedämmung und der Oberflächen der Außenwände herangegangen? Der Ken Soble Tower hat eine zusätzliche Dämmschicht erhalten, die ursprüngliche Gebäudehülle ist nicht mehr zu sehen.
Graeme Stewart: Diese Frage hat mehrere Dimensionen. Zunächst einmal haben wir bei der Konzeption der neuen Verkleidung des Ken Soble Towers versucht, die ursprüngliche modernistische Ästhetik beizubehalten. Auch wenn wir eine Schicht Mineralwolle und Stuck hinzugefügt haben, wollten wir die ursprüngliche Idee des Gebäudes bewahren. Die Modernisierung großer Wohnanlagen ist eine Frage der Pragmatik. Allerdings sollten wir zwischen Alltagsbeton und gestalterisch anspruchsvollem Brutalismus im engeren Sinne unterscheiden. Diese großartigen öffentlichen Gebäude mit ihren künstlerisch gestalteten Fassaden sind etwas ganz anderes, und natürlich will man in diesen Fällen den Sichtbeton erhalten.
Im Falle des Ken Soble Tower lag unsere Priorität auf Energieeffizienz und Komfort. Das Projekt zeigt exemplarisch, dass man ein Bestandsgebäude so weit modernisieren kann, dass es einem Neubau energetisch in nichts nachsteht. Es ging uns dabei um allerhöchste Effizienz. Der Ken Soble Tower ist jedoch wirklich ein Beispiel für Alltagsmoderne. Er hat nichts Extravagantes oder Skulpturales. Im Mittelpunkt stand die Pragmatik, nicht das kulturelle Erbe.
Bei großen öffentlichen Gebäuden wie Bibliotheken oder Universitäten sieht das ganz anders aus, und in diese Kategorie gehört der Mäusebunker. Bei einem solchen Bau muss der Betonhülle Vorrang eingeräumt werden. Wenn wir den Mäusebunker modernisieren sollten, würden wir uns genau ansehen, welches Maß an Energieeffizienz in welchen Teilen des Gebäudes erforderlich ist. Manche Bereiche lassen sich vielleicht einfach mit einer Innendämmung nachrüsten. Andere Gebäudeteile kommen möglicherweise mit einer weniger guten Wärmedämmung aus, wenn hochleistungsfähige Innenwände eine innere thermische Hülle bilden können. Abhängig von den programmatischen Anforderungen sind unterschiedliche Ansätze möglich.
Welche Erfahrungen haben Sie im Umgang mit den Eigentümern, den Verwaltungsbehörden und den Nutzern/Bewohnern der Gebäude gemacht?
Ya'el Santopinto: Was man nicht vergessen darf, ist die sich ständig ändernde Wahrnehmung und Einstellung. Dies gilt ebenso für die Eigentümer der Gebäude wie für die Allgemeinheit. Unser Auftraggeber für den Ken Soble Tower war vorher in leitender Position im Gesundheitssektor tätig gewesen und wollte mit diesem Projekt zeigen, dass Kanada nicht nur medizinische Einrichtungen von Weltrang, sondern auch hochwertige Sozialwohnungen bauen kann.
Bei Wohngebäuden gibt es ein weiteres Argument für eine Modernisierung: Sie stellt einen weit weniger großen Eingriff dar als ein Abriss und Neubau. Durch letzteren wird das soziale Gefüge von Stadtvierteln zerstört, da die Menschen ihre Wohnungen, Schulen und Arbeitsplätze verlassen müssen. Wenn man außerdem die Kosten für den Abbruch einbezieht, stellt sich die Frage der Wirtschaftlichkeit ganz anders dar und eine Modernisierung ist oft die kostengünstigere Wahl. In Kanada wurde, wie in den meisten westlichen Ländern, in den 1960er- und 1970er-Jahren massiv in die Infrastruktur investiert. Darauf folgten die 1980er-Jahre mit Haushaltskürzungen im öffentlichen Sektor, wodurch die Infrastruktur wegen fehlender Instandhaltung litt. Zum Tiefpunkt in den 1990er-Jahren wurden moderne Bauten ausschließlich als Belastung – und nicht als Kapital – wahrgenommen. In diese Gebäude wurden bereits große Mengen an Geld und Baumaterial investiert und hunderttausende Menschen bezeichnen sie als ihr Zuhause. In Hinblick auf die Energie ist der Unterschied eklatant. So stellte sich beim Ken Soble Tower die Energiebilanz folgendermaßen dar: Wenn man ein ganz neues Gebäude errichtet hätte, würde es etwa 200 Jahre dauern, um die graue Energie des alten Betonbaus zu kompensieren.
Der Diskurs folgt vier Themen